Lebendiges Gedenken

Kategorie(n): Allgemein
Die gestundete Zeit

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald musst du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont. …

Ingeborg Bachmann (1926-1973)

Der Totenmonat hat begonnen. Zum Sterben in der Natur gesellen sich Tage wie Allerseelen, Totensonntag und Volkstrauertag. Für uns Christen beginnt der Monat aber mit dem Fest Allerheiligen, d.h. mit dem für manche heute befremdlichen Gedanken an jene, die nach christlichem Glauben endgültig im Heil leben. Er beginnt also nicht mit einem trostlosen Totengedenken, sondern mit einem trostvollen Gedanken an Lebende. Wir beten an den Gräbern und bringen die Hoffnung zum Ausdruck, dass die, die hier liegen, schon im Heil sind.

Die Feste Allerheiligen und Allerseelen, der Volkstrauertag und der Totensonntag sind in diesem Monat zu begehen. Dadurch werden wir aufgerufen, unser eigenes Leben aus einer anderen Perspektive zu sehen.

Dr. Ulrich Lüke, Professor für Systematische Theologie an der RWTH Aachen, schreibt dazu:

In jungen Jahren erscheint uns das Leben wie das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Später werden wir uns mehr und mehr eines anderen bewusst: Unser Leben ist, wie Ingeborg Bachmann einmal gesagt hat, auf Widerruf gestundete Zeit. … Der Tod ist todsicher. Und jeder Versuch, dem Tod zu entgehen, entpuppt sich letztlich nur als eine Variante, dem Tod entgegenzugehen. Wenn all den ideologischen Klugschwätzern einer Idealgesellschaft und all den Konsumpropheten der Werbebranche bei jedem Zuklappen eines Sargdeckels das Wort im Hals steckenbliebe, welch nachdenkliche Stille könnte sich breitmachen!

Der Monat November kann uns als Christen Mut machen, mit unserer christlichen Botschaft der Auferstehung alle jene Tarnmanöver und Täuschungszeremonien zu entlarven, mit denen in unserer Gesellschaft das Bewusstsein von Sterben und Tod, laut Lüke

medial hinwegvergnügt oder merkantil  hinwegkonsumiert wird. Die christliche Hoffnung allein kann, so scheint es [dem Glaubenden], das wuchernde Gestrüpp der Verzweiflung ausreißen und den Keimling der Hoffnung einpflanzen auf dem Acker unseres Lebens.

Gesegneten November! 
Pfr. Konny Keutmann